Deutschland droht nächstes Großprojektdebakel
VON
JULIA LÖHR UND
HELMUT BÜNDER
-AKTUALISIERT AM 31.01.2022-19:30
Die extrem wichtigen Stromautobahnen geraten immer weiter in Verzug – wird die wichtigste Leitung erst in den dreißiger Jahren fertig?
Der Suedlink ist eine Hauptschlagader für die Energiewende. Über zwei Stränge soll die Leitung Windstrom von der Nordseeküste nach Bayern und Baden-Württemberg transportieren. Eigentlich sollte das Projekt schon Ende dieses Jahres fertig sein, wenn die letzten Atomkraftwerke vom Netz gehen. Dann wurde 2026 als neues offizielles Zieljahr ausgerufen. Nun peilen die Netzbetreiber 2028 an – und zwingen die Politik, den eigenen Fahrplan anzupassen. Netzagentur-Präsident sagte im Gespräch mit der F.A.Z. (31. Januar) sogar zum Zieldatum 2028: „Da würde ich erst mal ein kleines Fragezeichen dran machen.“
Der neue Termin „erscheint als ambitioniertes, aber realistisches Datum“, sagte eine Sprecherin von Wirtschafts- und Klimaschutzminister
Robert Habeck (Grüne) am Montag. Es gelte, alle weiteren Schritte „intensiv und im Detail auf Beschleunigungsmöglichkeiten zu prüfen und Verzögerungen zu begegnen“. Die Ampelkoalition hat sich vorgenommen, die Dauer von Genehmigungsverfahren mindestens zu halbieren. Dies soll auch den Ausbau der Netze voranbringen.
Abstimmungen fressen Zeit
Das ist Grundvoraussetzung, um die ehrgeizigen Windkraftziele zu erfüllen. Schon jetzt reichen die Leitungskapazitäten oft nicht aus, um den Strom nach Süden zu befördern. Selbst Meereswindparks müssen deshalb immer öfter abgeregelt werden. Auch müssen die Netzbetreiber wegen der Engpässe im Leitungsnetz immer häufiger in den konventionellen Kraftwerkspark eingreifen, was die Kosten für die Versorgungssicherheit in die Höhe treibt: 2020 lag der Aufwand schon bei mehr als einer Milliarde Euro. Die Kosten landen, umgelegt auf den Strompreis, bei den Verbrauchern. Diese werden sich wohl auf einen weiteren Anstieg einstellen müssen. Denn auch die übrigen großen Stromautobahnen werden nicht pünktlich fertig werden.
Für den SuedOstLink kalkulieren die Netzbetreiber mit 2027 statt 2025, auch die westliche Trasse soll zwei Jahre später 2027 in Betrieb gehen. Und es bleiben Zweifel, ob wenigstens diese Termine zu halten sein werden. „Wir halten auch 2028 für Suedlink für sehr herausfordernd“, sagte ein Sprecher des Übertragungsnetzbetreibers
Tennet , der die Leitung zusammen mit Transnet BW baut. Der Branchenverband BDEW fordert deshalb mehr Einsatz der Politik und der Bundesnetzagentur. Verfahren müssten gestrafft und modernisiert werden, das Personal in den Genehmigungsbehörden aufgestockt werden, hieß es. Das Wirtschaftsministerium hat angekündigt, unter anderem die sogenannte „Bundesfachplanung“ für die Suche nach den am besten geeigneten Trassenverläufen zu vereinfachen und beschleunigen. „Bereits 2022 werden wir weitere Leitungen im Übertragungsnetz, die zur Erreichung der neuen Klimaschutzziele erforderlich sind, in den Bundesbedarfsplan aufnehmen“, hieß es in Habecks Eröffnungsbilanz.
Ursprünglich sollten die Verbindungen als Freileitungen gebaut werden. Aber nach drei Jahren konnten die Planer ihre Entwürfe wieder einstampfen und von vorn beginnen, dieses Mal mit der Projektierung von Erdkabeln. Dass sich die Kosten für den Suedlink durch die Erdverkabelung von drei auf wenigstens zehn Milliarden Euro erhöhen, ist für die Energiewende noch das kleinere Übel. Viel schlimmer sind die zusätzlichen Verzögerung. Die erhoffte Rechtssicherheit hat auch die Umplanung nicht erbracht. Neben Bürgerinitiativen stellen sich immer wieder auch Kommunalpolitiker in den Weg. „Vor allem in Thüringen werden immer noch Grundsatzdiskussionen geführt, ob Suedlink gebraucht wird“, sagt ein Tennet-Sprecher. Häufiger kommt es zu Auseinandersetzungen, wenn Gemeinden durch eigene Planungen versuchen, die Planungen der Netzagentur zu durchkreuzen. Beispiel: Dort, wo später die Trasse verlaufen soll, soll ein Gewerbegebiet entstehen. Um solche Konflikte zu verhindern, hat die Netzagentur „Veränderungssperren“ verfügt, welche die Planungshoheit der Kommunen einschränken. Ende Februar entscheidet das Verwaltungsgericht, ob die Stromleitungen diese rechtfertigen. Insgesamt sieben Verfahren gegen die Netzplanung sind dort nach Angaben eines Sprechers noch anhängig.
Besonders viel Zeit frisst die Abstimmung mit den Grundeigentümern. Im heutigen Tempo werde Suedlink erst in den dreißiger Jahren fertig, heißt es aus Projektkreisen. Für jeden Acker und jede Wiese, dass ihre Leitung durchquert, brauchen die Netzbetreiber die Zustimmung. Nicht selten werden schon Betretungsrechte verweigert, so dass sich Bodenuntersuchungen und Vermessungen verzögern können. Zigtausende von Grundbesitzern müssen angeschrieben, mit den Landwirten Entschädigungen für den Wertverlust und Ertragseinbußen vereinbart werden. Wie schnell es vorangeht, darüber bestimmt schon das Erbrecht: In Baden-Württemberg, wo die Realteilung vorherrscht, haben es die Unternehmen mit ungleich mehr Eigentümern zu tun als in Niedersachsen oder Schleswig-Holstein. Wenn keine gütliche Einigung möglich ist, bleibt die Auferlegung von Duldungspflichten – doch damit tun sich die Ämter oft schwer.
Bei Tennet würde man sich eine Angleichung an die eigentumsrechtlichen Möglichkeiten des Bundesfernstraßengesetzes wünschen, um die Dinge zu beschleunigen. Einen Lichtblick immerhin liefert der Suedost-Link. Für die 540 Kilometer lange Trasse zwischen Magdeburg und dem bayrischen Landshut sind Tennet gerade die ersten Kabel geliefert worden. Im kommenden Jahr werden die ersten Planfeststellungsbeschlüsse erwartet, 2024 soll der Bau beginnen und möglichst 2027 abgeschlossen werden. Vorausgesetzt, die Planung verhakt sich nicht doch noch – und die Kabel kommen trotz aller Lieferkettenprobleme und Materialengpässe pünktlich an.
https://www.faz.net/aktuell/wirtsch...t-naechstes-grossprojektdebakel-17768304.html