Da sich ja inzwischen rumgesprochen hat, daß der Strom nicht nur für E-Autos irgendwo herkommen muß, ein recht gut recherchierter Artikel der aktuellen ZEIT aus meinem Arbeitsumfeld:
Das haben wir jetzt davon
Deutschland hat den Ausbau der Stromnetze verschleppt. Deshalb droht im Winter mancherorts das Licht auszugehen
VON MARC WIDMANN
Falls es tatsächlich so weit kommen sollte, dass Jens Langbecker und seine Leute den Bürgern in Baden-Württemberg das Licht ausknipsen müssen, dann sei vor allem eines wichtig, sagt er: »Dass es wirklich passiert.« Als Chef der für die Netzsteuerung zuständigen Hauptwarte des Stromnetzbetreibers TransnetBW erwartet er von seinen vier Systemführungsingenieuren an ihren cockpitartigen Tischen voller Monitore, dass sie dann nicht zögern, sondern ihre innere Hemmschwelle überwinden.
»Das möchte eigentlich keiner machen«, sagt Langbecker, »weil jeder weiß, dass dann auch jemand im Aufzug feststecken kann.« Aber nichts zu tun sei keine Lösung: »Das würde heißen, dass wir unkontrolliert in etwas reingehen.« Im schlimmsten Fall: in den Kollaps des Stromnetzes, in Dunkelheit bei Nacht und stillstehende Fabriken bei Tag.
Um in so einer Situation die Kontrolle zu behalten über die Frage, wer vom Netz muss und wer nicht, trainieren sie in der Hauptschaltleitung in Wendlingen regelmäßig den Ernstfall, indem sie nachgelagerte Netzmanager anweisen, eine bestimmte Menge von Stromkunden gezielt vom Netz zu trennen. Bislang trat dieser Ernstfall noch nie ein. Doch es steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich das ändert. Die Situation im gesamten deutschen Stromnetz wird im kommenden Winter nämlich »äußerst angespannt« sein. So steht es in der großen Sonderanalyse der vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber TransnetBW, Amprion, Tennet und 50Hertz, die sie im Auftrag der Bundesregierung erstellt haben.
Besonders angespannt wird die Lage demnach im Süden der Republik sein. In Bayern und Baden-Württemberg leben mehr als 24 Millionen Menschen, dort ballen sich auch die Fabriken. Falls verschiedene Risiken gleichzeitig wahr werden, könnte es an funktionsfähigen Kraftwerken mangeln, um sie mit Strom zu versorgen. Vor allem der in den vergangenen Jahren immer gravierender gewordene Mangel an Stromleitungen könnte in diesem Winter fatale Folgen haben.
Die kritischsten Momente für das deutsche Stromnetz, so haben es die Netzbetreiber analysiert, drohen an kalten Wintertagen, wenn sehr viel Energie benötigt wird, auch weil im Süden Europas die Stromheizungen laufen
Am Kopfende der Hauptwarte ist ein wandfüllender gebogener Bildschirm angebracht. Jens Langbecker kann darauf in einer Tabelle sehen, woher an diesem Nachmittag Ende September der Strom für Baden-Württemberg kommt. »Die Sonne ist gerade mein größtes Kraftwerk«, sagt er, 3791 Megawatt liefert sie. Auf Platz zwei liegt das Kernkraftwerk Neckarwestheim mit 1266 Megawatt. Mit großem Abstand folgt ein Kohlemeiler, der an diesem sonnigen Tag nur mit gedrosselter Leistung fährt.
Doch das friedliche Bild ist trügerisch, denn die deutsche Stromversorgung ist unstet. Der Strom aus den erneuerbaren Energien kommt und geht mit den Wolken oder dem Wind. Und selbst die früher so zuverlässige Versorgung aus konventionellen Kraftwerken ist gerade schwer kalkulierbar. In der Mitte des riesigen Bildschirms sieht Langbecker ein Geflecht aus bunten Linien und Kreisen, sein Netz. Links reichen die Leitungen bis nach Frankreich. Dort fällt seit Monaten etwa die Hälfte der Atomkraftwerke wegen Reparaturarbeiten aus, viele werden noch lange stillstehen. Und ob die deutschen Atommeiler im nächsten Jahr laufen werden, ist unklar. Rechts sieht er die Leitungen nach Bayern. Hier gibt es nur wenige Reservekraftwerke, und die hängen vor allem am Gas. Aber wie viel Gas dort im Winter noch ankommen wird, weiß niemand. Dazu ist auch noch der Kohletransport zu den Meilern im Süden erschwert, weil der Rhein nur wenig Wasser führt. Wohin Langbecker auch schaut, überall sieht er: Ungewissheit.
Die kritischsten Momente für das deutsche Stromnetz, so haben es die Netzbetreiber analysiert, drohen an kalten Wintertagen, wenn sehr viel Energie benötigt wird, auch weil im Süden Europas die Stromheizungen laufen. An diesen Tagen kann der Wind im Norden stark pfeifen und jede Menge Strom produzieren. Aber das deutsche Netz wird womöglich nicht in der Lage sein, ihn in den Süden zu transportieren.
Um das Problem zu verstehen, kann man sich die deutsche Energieversorgung als einen Organismus vorstellen. In diesem Organismus sind die Übertragungsleitungen von Nord nach Süd die Hauptschlagadern. Schon heute verstopfen sie oft. Dann müssen die Leute in den Leitwarten reagieren. »Während wir früher vielleicht einmal in der Woche eingreifen mussten, um das Netz stabil zu halten, machen wir das heute mehrfach am Tag«, sagt Hendrik Neumann, technischer Geschäftsführer des größten deutschen Übertragungsnetzbetreibers Amprion. Von Brauweiler bei Köln aus überwacht er die Frequenz des europäischen Stromnetzes, den »Puls«, sagt er. Fällt oder steigt der Puls zu sehr, schalten sich große Anlagen ab, alles gerät ins Wanken.
Um das zu verhindern, machen sie hier jetzt ständig eine Operation: Sobald mal wieder eine der raren Nord-Süd-Schlagadern in Deutschland an ihre Kapazitätsgrenze kommt und die Überlastung droht, lassen sie oben im Norden die Windräder abregeln. Die Betreiber bekommen dafür eine Entschädigung. Allerdings müssen Verbrauch und Erzeugung von Strom im Netz zu jeder Sekunde ausgeglichen sein, damit der Puls stabil bleibt. Deshalb müssen dann auf der anderen Seite der Verstopfung, im Süden, schnell flexible Kraftwerke hochfahren. Auch deren Betreiber bekommen dafür reichlich Geld.
Redispatch heißt die Operation. Sie kostet seit Jahren zunehmend viel Geld, jeder Stromkunde bezahlt sie über das Netzentgelt im Strompreis mit. 2,3 Milliarden Euro verschlang das »Netzengpassmanagement« vergangenes Jahr. Wegen der gestiegenen Strompreise wird sich der Betrag dieses Jahr wohl vervielfachen. Damit die Bürger nicht noch mehr belastet werden, will die Bundesregierung 13 Milliarden Euro zuschießen.
Die teure Operation funktioniert jedoch nur unter einer Bedingung: dass im Süden ausreichend Kraftwerke bereitstehen, die sich hochfahren lassen. Genau das könnte im Winter wegen der verschiedenen Risiken nicht mehr der Fall sein, befürchten die Netzbetreiber. Wenn dann auch die Nachbarländer nicht mehr aushelfen können, müssen die Männer von Jens Langbecker in Wendlingen ihre Hemmschwelle überwinden und einen Teil der Stromkunden vom Netz trennen.
Dann würde in einer schwäbischen oder badischen Region für ein oder zwei Stunden das Licht ausgehen. Und falls das nicht reicht, wären abwechselnd weitere Regionen dran, »rollierender Lastabwurf« heißt das in der Fachsprache.
Die großen Windparks wachsen vor allem im Norden Deutschlands, weit entfernt von den Verbrauchszentren im Süden und Westen. Und blöderweise hat man es nicht geschafft, die Leitungen dazwischen zu bauen
Die gute Nachricht ist, dass die Ingenieure in den Leitwarten das Problem wahrscheinlich kommen sehen werden, drei Tage vorher sind die Prognosen für Wetter und Stromverbrauch schon recht verlässlich und spätestens einen Tag vorher sehr genau.
»Bevor wir tatsächlich Kunden abschalten würden, nutzen wir natürlich alle anderen Möglichkeiten«, sagt Jens Langbecker. Als letzte Maßnahme würde man »notfalls auch die geplanten Stromexporte ins europäische Ausland kürzen«. Dann würde Deutschland den Italienern, Schweizern und Österreichern ankündigen, weniger Strom zu liefern. Und somit die Folgen seines Netzengpasses an andere Länder weiterreichen, die dann vielleicht bei sich die Lichter abschalten müssen. Europarechtlich wäre das erlaubt, aber ob es auch politisch erwünscht ist, wird noch diskutiert. Wie konnte Deutschland nur in so eine Zwickmühle geraten?
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